Stillstand und Fortschritt

Ich trete auf der Stelle. Diese Gefühl plagt mich immer zu. Mich zu verbessern bedeutet nicht immer dieselben Fehler zu wiederholen. Manchmal kann es leicht fallen aus einem Fehler zu lernen, beispielsweise indem man sich die Hand verbrennt und dieses neu gewonnene Wissen durch nachhaltigen Schmerz bezahlt. Sorgen unsere Verhaltensfehler jedoch nicht für ein direktes "Leiden", dann braucht es ein großes Maß an Aufmerksamkeit um sie zu bemerken und ebenso viel Willenskraft um sie nachhaltig auszutreiben. Das grundsätzliche Ablaufschema, nachdem man sein eigenes Fehlverhalten ausmerzen kann läuft jedoch nach einem festen Schema ab:
1. Der blinde Fleck: Bemerke deinen Fehler!
2. Die Ursache: Woher kommt der Fehler?
3. Die Lösung: Wie kann ich den Fehler zukünftig umgehen?
4. Routine umprogrammieren: Übe den Fehler zu umgehen.

All diese Schritte muss man durchlaufen, will man sich weiterentwickeln. Ich will das ganze anhand eines konkreten, fiktiven Beispiels durchexerzieren. Dabei möchte ich all die Punkte besonders hervorheben von denen ich weiß, dass ich in der Vergangenheit daran gescheitert bin. Damit habe ich übrigens den ersten der vier Punkte bereits erfüllt. Noch kritischer sind natürlich die Fehler, von denen ich nicht einmal weiß, dass ich sie mache.

Überfordert? Ich doch nicht...

Folgendes Szenario: Ich befinde mich gerade im Gespräch mit ein paar Freunden auf einer Convention, als mir in 50 m Entfernung eine herausragende Cosplayerin auffällt, die ich gerne fotografieren möchte. Sofort schießen mir einige Fotoideen durch den Kopf, die ich umsetzen könnte. In schätzungsweise neun von zehn fällen scheitere ich schon hier. Ich spreche sie nämlich gar nicht erst an. Warum? Mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Gedanke: "Sie kommt eh den ganzen Tag kaum einen Meter voran, weil sie permanent fotografiert wird, also nerve ich sie vermutlich nur."
Nehmen wir einmal den unwahrscheinlichen Fall an, dass ich mich überwinden konnte und nun tatsächlich ein Shooting zustande kam. Nun prasseln so viele Faktoren zeitgleich auf mich ein, dass ich in einem der jeweiligen Teilgebiete auf jeden Fall einen Fehler begehen werde:

1. Ich muss eine passende Location finden.
2. Mein Auftreten sollte sich aufgrund von Nervosität nicht zu peinlich gestalten.
3. Blitze oder Reflektor? Welches Lichtsetting würde passen?
4. Schaffe ich es mich in kurzer Zeit aufzubauen und ein paar gute Fotos zu machen?
5. Welches Objektiv ist das richtige um eine ansprechende Perspektive hinzukriegen.
6. Ich muss aufpassen nicht aus einem ungünstigen Winkel zu fotografieren. Verzerre ich?

7. Ist der Hintergrund frei oder laufen mir permanent ablenkende Menschen durchs Bild?

8. Bloß nicht irgendwie die Füße oder Hände blöd anschneiden

9. Körperspannung?

10. Wohin mit den Händen?

11. Wie bringe ich den richtigen Ausdruck in das Gesicht meines Modells?

12. Sitzt das Cosplay richtig, ist eine Kette verdreht, das Headpiece verrutscht, lösen sich die Wimpern ab?

13. Schaut vielleicht ein BH-Träger blöd heraus?

14. Wie wirkt die Gewichtsverteilung, betone ich den Körper meines Modells richtig?

15. Liegen im Hintergrund irgendwelche Gegenstände, die stören?

16. Ungünstige Falten im Outfit?

17. Lieber einen Meter weiter weg/weiter ran?

18. Ist das Bild scharf?

19. Ist der Blickwinkel so gut, sollte ich eher noch ein bisschen weiter nach links/rechts/oben/unten?

20. Habe ich den Hintergrund so ins Bild mit integriert, wie ich mir das vorstelle?
21. Betone ich die Schulter von meinem Modell zu viel?

22. Sieht das Knie eventuell komisch aus, so wie es gerade ist?

 ...

Probleme: Aus dem Weg gehen, oder angehen?

Kommt dir das bekannt vor? Wenn nicht alles auf Anhieb klappt folgen mehrere Anläufe, das ist normal und okay soweit. Jedoch sollte ich es nicht übertreiben sonst sind irgendwann alle genervt, weil es nicht voran geht. Deshalb ist es zuträglich für ein gutes Bildergebnis erfahrene Modelle und Assistenten zu haben, die einem Arbeit abnehmen. Ich setze mir damit Rahmenbedingungen, die mir die Arbeit erleichtern, beschneide mich aber umgekehrt neuen Erfahrungen. Verlasse ich mich immer auf erfahrene Modelle, so werde ich versagen, wenn ich mit einer unerfahrenen Person arbeite. Das Portfolio sieht zwar super aus, aber die eigenen Fähigkeiten sind verkümmert. Wobei die Vorgehensweise sich das Leben an einigen Stellen zu vereinfachen nicht verkehrt ist und durchaus seine Berechtigung hat, dazu später mehr.

Genau so gut funktioniert es hingegen Abläufe so oft zu wiederholen, bis sie parallel im Hintergrund laufen und keine Aufmerksamkeit mehr fordern. Eine typische "Routine" von mir ist, dass ich ein Foto aufnehme und noch im selben Moment auf das Kameradisplay starre. Der Prozess mit dem Modell zu arbeiten wird im Sekundentakt unterbrochen - und das scheint mir das größte Problem zu sein. Setze ich mich mal in der Stadt auf eine Parkbank und beobachte die Umgebung, dann benötige ich auch ein wenig Zeit um Details in meiner Umgebung zu bemerken, die im ersten Vorbeigehen unentdeckt blieben. Aber auch das Modell fällt immer wieder aus der Pose und muss mit dem nächsten Foto wieder von vorn beginnen. Wäre es nicht sinnvoller, wenn ich in einen Flowzustand käme, in dem ich permanent mit meinen Augen bei der Sache wäre?
Was bedeutet das nun für mich: Ich muss mir die Routine abgewöhnen auf das Display zu schauen und einfach mal anfangen meinen eigenen Fähigkeiten zu vertrauen. Früher, als ich noch analog fotografiert hab, hab ich das ja auch hingekriegt. Wobei sich dies schlecht vergleichen lässt, da ich damals nur sehr entspannt Landschaft und Stillleben fotografiert habe. Noch dazu mit einer Mittelformatkamera mit riesigem, hochauflösenden Lichtschachtsucher.

Damit habe ich den zweiten Schritt in der Kaskade gemacht: Problemursache ist gefunden und analysiert. Sollte sich jedoch herausstellen, dass dies gar nicht das Problem war und ich an ganz anderen Schrauben drehen muss, so habe ich zumindest diese "Sackgasse" einmal überprüft und kann mir eine andere Strategie überlegen. Auch das gehört zum "Reifungsprozess". Als nächstes brauche ich nun also einen Plan wie ich diese Ursache meines Scheiterns beheben kann. Ganz einfach ausgedrückt: Schau nicht mehr aufs Kameradisplay! Das blöde an Gewohnheiten ist nur: Sie sind so sehr in uns verankert, dass wir garnicht mehr darüber nachdenken. Hast du schon mal auf dein Handy geguckt um zu sehen wie spät es ist, es wieder eingesteckt und dich in der nächsten Sekunde gefragt wie spät es ist? Die Routine auf das Handy zu schauen ist so unterbewusst, dass du die abgelesene Zeit gar nicht mehr wahrgenommen hast. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Tun wir das richtige ohne darüber nachzudenken, so nimmt es uns Arbeit ab. Tun wir das falsche ohne darüber nachzudenken, so sabotieren wir uns permanent selbst.

So klappt's!

Zurück zu vereinfachenden Rahmenbedingungen: Ich klebe nun das Display meiner Kamera ab - Ende Gelände. Ich kann nun nicht mehr direkt auf das Display schauen und bin gezwungen den Vorgang des Fotografierens bewusster wahrzunehmen. Natürlich nicht sofort bei einem wichtigen und schwierigen Projekt. Sondern zunächst erst einmal in einer kontrollierten Versuchsumgebung. Jeden Tag einmal die Kamera für ein paar Minuten in die Hand nehmen und ein paar Fotos schießen. Solange, bis ich mit der "blinden" Kamera im Alltag gut klar komme. Erst dann fange ich an größere Schritte zu planen. Als nächstes das Klebeband entfernen und hoffen, dass ich nicht in alte Muster zurückfalle zum Beispiel. Die Routinen müssen umprogrammiert werden und das über einen langen Zeitraum. Da nun eh der Winter ansteht kann ich diese "Auszeit" gut nutzen um mich auf den kommenden Frühling vorzubereiten.

Mit diesem Entschluss stehe ich nun "nur noch" vor der Ausführung des Plans. Ihn in die Praxis umzusetzen ist nun das wichtigste und entscheidet über Erfolg oder Scheitern der Mission. Ich melde mich dann in ein paar Monaten zurück um zu berichten ob dieses Experiment mir wirklich geholfen hat mich zu verbessern und meinen Blick fürs Posing zu schärfen, was ja die Grundintention war.

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Kommentare: 2
  • #1

    Andre (Dienstag, 31 Oktober 2017 12:25)

    Nette Idee! Wenn man sich mal überlegt, wie oft man tatsächlich einfach nur aufs Handy guckt, einfach nur um aufs Handy zu gucken, bemerkt man, wie stark wir uns eigentlich ablenken lassen. Dass sich das jetzt leider auch so negativ in der Fotographie bemerkbar macht, hätte ich jetzt nicht erwartet :D Aber das zeigt auch wieder, dass die Technik, die uns helfen soll eben doch ein "zweischneidiges Schwert" ist, wie du so schön sagst.

    Viel Glück mit dem Panzerband!

  • #2

    RAWR (Mittwoch, 01 November 2017 09:26)

    @Andre: Ob man das allgemeingültig als einschränkendes Problem in der digitalen Fotografie bezeichnen kann, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Vielleicht stehe ich auch als einziger mit dieser kritischen Einstellung dar. Als ich früher mit einer analogen Mittelformatkamera das Handwerk von meinem Großvater gelehrt bekam, waren schon heutige Banalitäten eine große Herausforderung. So besaß die alte TLR keinen integrierten Belichtungsmesser. Bei Spiegelreflexkameras aus den 70er (oder 80er... dafür kenne ich mich in der Historie nicht gut genug aus) Jahren war das bereits anders. Im Inneren des Suchers zitterte eine kleine Nadel, die einem sagte, ob man zu hell oder zu dunkel belichtet hat. Das waren die Vorgänger der heutigen Belichtungswaage. Hast du so einen kleinen Helfer nicht, dann kannst du nur auf Erfahrungswerte bauen. Ich hatte damals eine checkkartengroße Belichtungstabelle, welche mir sagte, was ich ungefähr (+/- 1 Blendenstufe) einzustellen hatte um bei grellem Sonnenschein oder bei gedimmter Wohnzimmerbeleuchtung ein halbwegs ordentliches Ergebnis zu bekommen. Auch das hat funktioniert, ist heute aber zurecht überholt.

    Zurück zum eigentlichen Thema des Beitrags: Die richtige Belichtung mit der DLSR zu treffen war ab dem ersten Tag mit abgeklebtem Display kein Problem. Wobei der erste routinierte Blick natürlich trotz allem der Stelle galt, wo nun das Panzerband klebt. Das wird man aber überraschend schnell los. Der nächste Schritt war nun auch noch das Blitzlicht nach grobem Überschlagen einzustellen und „blind“ zu arbeiten. Sobald die ersten Startschwierigkeiten überwunden sind (siehe Reiter „Technik“ Beitrag „Leitzahl? Forget it!“) geht auch dies sehr flüssig von der Hand.

    Ob mir diese neu gewonnene "Konzentration aufs Motiv" in der Praxis behilflich sein wird, muss sich erst noch herausstellen, wenn ich mit Modellen arbeite. Ich betrachte es mal als Experiment mit offenem Ende und werde Bericht erstatten :). Einen positiven Effekt, der mir bis jetzt bereits aufgefallen ist, kann ich jedoch schon zu Protokoll geben: Ich schaue schon vorab mehr auf die Helligkeitsverteilung meines Motivs und berücksichtige sie beim Blick auf die Belichtungswaage oder der Einstellung des Blitzes.

    Besten Gruß RAWR